Offener Brief an die Regierung des Kantones St. Gallen

der Mitarbeitenden der Bereiche Beratungsstelle In Via und Weiterbildung und Prävention des Kinderschutzzentrums St.Gallen

  

St. Gallen, August 2019

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren der Regierung des Kantons St. Gallen

 

Für uns überraschend haben wir am 30. April von der auf April 2020 geplanten Schliessung des Schlupfhuus erfahren. Wir sind nach wie vor bestürzt über diesen Entscheid, fühlen uns überrumpelt, wütend und traurig. Es ist uns deshalb ein Anliegen, Ihnen einige unserer Überlegungen zu diesem Entscheid zur Verfügung zu stellen.

1994 setzten sich erste Arbeitsgruppen in St.Gallen damit auseinander, wie der Schutz von gewaltbetroffenen Kindern im Kanton besser gewährleistet werden könne. Der Kanton St.Gallen kam zum Entscheid, dass es ein Kinderschutzzentrum mit mehreren professionell organisierten Angebotsschwerpunkten brauche, damit betroffenen Kindern und Jugendlichen eine Zukunft mit Perspektiven geboten werden könne. Der Kanton sprach mit Überzeugung die dafür notwendigen finanziellen Mittel.

Am 18. April 2001 beschloss der Grossrat, das Kinderschutzzentrum ins Leben zu rufen. Somit wurde am 1. Februar 2002 die Beratungsstelle, am 1. Oktober das Schlupfhuus und am 1. Januar 2003 die Bettenstation eröffnet. Mit diesem Statement zum Kindesschutz und zu sinnvollen Investitionen in die Zukunft war der Kanton St.Gallen ein Vorreiter.

Etablierte Synergien drohen verloren zu gehen

 

Rund 17 Jahre später zeigt sich, dass die damaligen Massnahmen zu einer deutlichen Qualitätssteigerung im Kindesschutz geführt haben. Die Synergien innerhalb des Kinderschutzzentrums mit den Bereichen Beratungsstelle In Via, Weiterbildung und Prävention und Schlupfhuus bieten viele Vorteile. Auch die Nähe zum Ostschweizer Kinderspital stellt einen Gewinn dar. Durch diese schweizweit einzigartige Kombination können gewaltbetroffene Kinder und Jugendliche und deren Bezugspersonen optimal unterstützt werden.  

Folgende Vorteile bieten sich durch die langjährige Zusammenarbeit und räumliche Nähe der drei Bereiche des Kinderschutzzentrums unter dem Dach des Ostschweizer Kinderspitals:

 

·      Fachlich betreuter Kinder- und Jugendnotruf während 365 Tagen zu 24-Stunden

·      Ambulanter und stationärer Schutz von Kindern, jederzeit, rund um die Uhr

·      Nahtlose schulische Betreuung durch das Lernatelier des Kinderspitals

·      Jederzeit Zugang zur Notfallpsychologie des Kinderspitals

·      Jederzeit medizinische Versorgung (gynäkologischer Untersuch, Rechtsmedizin, Spurensicherung) durch das Kinderspital

·      Langjähriger gemeinsamer Aufbau von Fachwissen und Erfahrungen im Bereich Kindesschutz, Krisenintervention und Opferhilfe über alle Angebotsbereiche

·      Unkomplizierte Besichtigung der Notunterkunft für Betroffene und Berücksichtigung bzw. Relativierung der Ängste von Kindern und Jugendlichen, dass sie in ein Kinderheim eintreten müssen

·      Elternarbeit für im Schlupfhuus untergebrachte  Kinder und Jugendliche in Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle In Via

 

Diese Auflistung ist keineswegs abschliessend. Aus unserer Sicht stehen viele Vorteile auf dem Spiel.

 

Durch das 17-jährige Fortbestehen hat das Schlupfhuus als Teil des Kinderschutzzentrums nicht nur in Fachkreisen, sondern auch unter Kindern und Jugendlichen einen Namen. Wir befürchten, dass nach der Schliessung des Schlupfhuus einige Fälle „untergehen“ und keine Unterstützung erhalten, weil die neue Einrichtung unbekannt ist oder das Vertrauen darin noch fehlt. Aus unserer Sicht ist zudem erwähnenswert, dass durch den nun notwendigen Mehraufwand an Koordinationsleistungen zwischen den Einrichtungen im Kindesschutz Folgekosten auf die Gesellschaft zukommen  werden. Diese scheinen nach unserem Eindruck bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt worden zu sein.

Je kürzer die Wege zwischen den Hilfestellen desto effizienter und günstiger ist aus unserer Sicht die Umsetzung von Kindesschutzmassnahmen. Die vorhandene Struktur deckt einen Grossteil des notwendigen Helfernetzes ab.

In der Nachfolgelösung müsste Folgendes zwingend sichergestellt werden:

 

·      Kinder und Jugendliche können jederzeit selbstständig und unbürokratisch eintreten. Dies fördert ihre Selbstwirksamkeit, indem sie selber einen ersten Schritt aus ihrer Not in die Wege leiten.

·      Die Hemmschwelle für den Eintritt in eine Notunterkunft muss klein sein. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sich einige Opfer keine Hilfe holen. Dies hat mit grosser Wahrscheinlichkeit Auswirkungen auf deren Entwicklung und kann höhere Folgekosten in Form von körperlichen und psychischen Erkrankungen oder „selber Gewalt ausüben“ generieren.

·      Hilfemassnahmen und weitere Schritte sollten - wenn möglich – mit Einbezug der Interessen der Kinder und Jugendlichen und unter Einbezug deren Bezugspersonen geplant werden.

·      Geschwister sollten - auch bei grösseren Altersunterschieden - in der gleichen Institution platziert werden, damit zusätzliche Trennungssituationen verhindert werden.

·      Die Mitarbeitenden müssen über Erfahrung im Umgang mit von einer Krise betroffenen Kindern und Jugendlichen verfügen. Fachwissen im Bereich Kindesschutz ist zwingend. Es geht um Kinder und Jugendliche in Krisensituationen, die für unbestimmte Zeit platziert werden müssen, weil sie beispielsweise von den Eltern geschlagen, massiv abgewertet oder unter Druck gesetzt werden, weil eine Zwangsheirat oder Entführung droht oder sie zu Hause sexuelle Übergriffe erleben. Kindesschutz erfordert ein dichtes Netzwerk, um in den verschiedensten Ausnahmesituationen schnell und richtig handeln zu können.

·      Wirtschaftliche Interessen dürfen beim Entscheid für eine notwendige Platzierung keine Rolle spielen.

 

Wir befürchten Qualitätseinbussen auf Kosten der Kinder und Jugendlichen

 

Aus den oben aufgeführten Überlegungen befürchten wir eine erhebliche Qualitätseinbusse auf Kosten von betroffenen Kindern und Jugendlichen und bitten Sie, ihre Entscheidung zu Gunsten der Schwächsten in unserer Gesellschaft zu überdenken und am Entscheid des Grossratsbeschluss vom 18. April 2001 für ein Kinderschutzzentrum mit mehreren Pfeilern unter dem Dach des Ostschweizer Kinderspitals festzuhalten.

 

 Doris Raschle, Andreas Heim-Geiger, Claudia Bertschi, Sonja Suter, Céline Loop, Doris Baur, Svetlana Goloborodko, Claudia Fausch, Corinne Lei, Anna Mähr, Martina Maier, Philipp Mühlemann


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